Reizdarm oder nicht – das ist hier die Frage …

Interview mit Dr. Volker Schmiedel, Magen-Darm-Experte, Baar (Schweiz)

Durchfall, Blähungen & Co. – oft „entpuppt“ sich ein Reizdarm als die organische Erkrankung „exokrine Pankreasinsuffizienz“ (EPI). Wie man beides unterscheidet, erklärt der Magen-Darm-Experte Dr. Volker Schmiedel, Baar (Schweiz).

Bei vielen Patienten mit wiederkehrenden Durchfällen, Blähungen und Bauchschmerzen wird oft „Reizdarm“ diagnostiziert – warum muss das nicht immer stimmen?

Nach meiner Erfahrung sind die meisten angeblichen Reizdärme keine Reizdärme. Oft wird einfach nur eine Koloskopie, also die Darmspiegelung, durchgeführt – und wenn diese keinen Befund liefert, weil kein Tumor oder keine Darmentzündung vorhanden ist, wird einfach Reizdarm diagnostiziert. Bei Menschen mit Reizdarmbeschwerden, wie Blähungen, Verstopfungen, Durchfälle und / oder ein Wechsel dieser Symptomatiken, wird in der Regel dann nicht nach den wahren Ursachen geschaut. Diese Ursachen können sein: Laktose-, Fruktose-, und Histaminintoleranz oder „echte“ Nahrungsmittelallergien. Des Weiteren kann auch eine Gallensäure- oder Bauspeicheldrüsenschwäche, letzteres auch „exokrine Pankreasinsuffizienz“ (EPI) genannt, besagte Beschwerden hervorrufen.

Da die psychische Komponente beim Reizdarm eine wesentliche Rolle spielt, ist für die korrekte Diagnose folgende Frage essenziell, die meines Wissens nach viel zu selten gestellt wird: Geht es dem Patienten im Darm auch schlechter, wenn er Stress oder Konflikte hat? Oder umgekehrt: Wenn Wochenende ist oder Urlaub und der Reizdarmpatient sich im Alltag rundum wohlfühlt, dann dürfte er auch keine gravierenden Darmbeschwerden haben. Wenn das nicht der Fall ist, dann ist ein Reizdarm unwahrscheinlich, sondern eine andere Erkrankung, beispielsweise eine EPI.

Was genau ist die „exokrine Pankreasinsuffizienz“ (EPI)?

Die EPI ist eine Bauspeicheldrüsenschwäche* mit verminderter Produktion von Verdauungssäften. Aufgrund dessen haben EPI-Patienten große Probleme bei der Verdauung von Mahlzeiten, die sich in Blähungen, Schmerzen und fettigen Stühlen bemerkbar machen.

*Pankreas=Bauspeicheldrüse / Insuffizienz =Schwäche

Wie kann ein Patient merken, ob er vielleicht an einer EPI leidet und nicht an Reizdarm?

Das lässt sich recht klar und einfach unterscheiden: Wenn jemand richtige Probleme nach großen Mahlzeiten oder fetten Speisen hat, also z.B. starke üble Blähungen, und das unabhängig von Stress oder Konflikten, dann ist eine Fettverdauungsstörung sehr wahrscheinlich. Dieser Fettverdauungsstörung liegt häufig eine Bauspeicheldrüsenschwäche zugrunde, es kann aber auch eine Gallenschwäche sein. Ein weiteres Zeichen dafür, dass eine dieser Schwächen vorliegt, ist, wenn die Darmbeschwerden relativ schnell, d.h. eine halbe Stunde nach der Mahlzeit oder gar schon während des Essens auftreten. Wenn ein Patient das bei sich bemerkt, dann sollte er auf jeden Fall zum Arzt gehen, um die genaue Ursache abzuklären.

Was sind die wesentlichen Unterschiede zwischen beiden Erkrankungen und wie stellt der Arzt das fest?

Grundsätzlich gilt: Der Reizdarm ist eine psychosomatische Erkrankung und die EPI eine organische. D.h. beim Reizdarm findet der Arzt keine körperliche Ursache, bei der EPI hingegen findet er, dass die Bauspeicheldrüse nicht mehr genügend Verdauungssäfte produziert, die für eine gesunde Verdauung benötigt werden. Der Arzt sollte zu allererst eine ausführliche Anamnese durchführen, d.h. den Patienten befragen, auch und unbedingt die vorgenannte „Wochenend-/Urlaubs-Frage“ stellen (siehe Frage 1). Reizdarm lässt sich diagnostisch nicht beweisen, sondern nur ausschließen. D.h. wenn der Arzt keine organische Erkrankung findet, dann ist es vermutlich ein Reizdarm.

Bei der EPI fragt der Arzt nach der Fettverdauung, also ob Probleme nach oder beim Essen auftreten (siehe Frage zuvor). Dann führt der Arzt als Diagnose eine Untersuchung auf Fette im Stuhl sowie die Messung eines EPI-Markers namens Pankreas-Elastase 1 durch.

Welche Therapie ist für welche Erkrankung die richtige?

Da der Reizdarm eine psychosomatische Erkrankung ist, spielen hier die Therapien wie Konfliktvermeidung bzw. -lösung, guter Umgang mit Stress bis hin zu psychotherapeutischen Maßnahmen die zentrale Rolle. Unterstützend können hier pflanzliche Arzneimittel helfen.

Bei der EPI fehlen die Verdauungsenzyme, d.h. die Therapie besteht in der Substitution, also Zuführung der fehlenden Enzyme. Hier werden Enzyme vom Schwein und aus Reispilzen eingesetzt. Wenn die EPI sehr stark ist, dann muss zusätzlich auch magensäureresistentes Bikarbonat gegeben werden, damit die Schweineenzyme wirken. Bei den Verdauungsenzymen aus Reispilzen (Rizoenzyme) ist das nicht nötig.

Was schätzten Sie: Wie viele Patienten, die eine Reizdarm-Diagnose erhalten, leiden eigentlich an EPI?

Ich schätze grundsätzlich, dass bei 80 bis 90 Prozent aller Patienten mit Reizdarmdiagnose tatsächlich eine organische Erkrankung vorliegt. Von diesen Patienten haben, rein geschätzt, etwa 20 Prozent eine EPI.

Dr. Volker Schmiedel ist auch Autor; Buchtipp: "Alarm im Darm", TRIAS-Verlag, 2016

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