Mystische Myrrhe
Myrrhe ist das Harz des Baumes mit dem botanischen Namen „Commiphora molmol“. Die Arzneipflanze mit biblischer Tradition gehört zu den ältesten Heilmitteln der Menschheit und ist mit dem bekannteren Weihrauch „verwandt“. Das Myrrheharz wird seit Jahrtausenden im Mittelmeerraum und in den letzten Jahrhunderten auch in Mitteleuropa wegen seiner vielfältigen Wirkungen eingesetzt.
Myrrhe – die biblische Medizin
In den religiösen Kulten der frühen Hochkulturen spielte Myrrhe neben Weihrauch eine große Rolle. Nach dem griechischen Schriftsteller Plutarch (46-119) wurde im ägyptischen Isis-Tempel dreimal täglich ein Rauchopfer dargebracht. Am Morgen Weihrauch, mittags Myrrhe und abends eine Mischung von Räucherwerk namens „Kyphi“. Auch in der Bibel wird die Myrrhe mehrmals erwähnt, so etwa im Alten Testament (Exodus 30, 23-25) wo ein Salböl beschrieben wird: „Nimm dir Balsam von bester Sorte: fünfhundert Schekel erstarrte Tropfenmyrrhe, halb so viel, also zweihundertfünfzig Schekel, wohlriechenden Zimt, zweihundertfünfzig Schekel Gewürzrohr und fünfhundert Schekel Zimtnelken, nach dem Schekelgewicht des Heiligtums, dazu ein Hin Olivenöl, und mach daraus ein heiliges Salböl…“
Es ist sicher auch kein Zufall, dass die Weisen aus dem Morgenland dem Neugeborenen neben Gold und Weihrauch auch Myrrhe schenkten (Matthäus 2,1), dies waren die wertvollsten Güter in dieser Zeit. Im Fall der Myrrhe sicherlich auch aus medizinischen Gründen.
Myrrhe bei den Griechen
Das größte Werk der Antike über die Arzneimittel war die ‚Materia medica‘ des griechischen Arztes Dioskurides (um 60 nach Chr.), es war bis weit ins 16. Jahrhundert hinein das maßgebliche Werk der Pharmazie. Nach Dioskurides wirkt Myrrhe u.a. gegen chronischen Husten, Seiten-und Brustschmerzen und gegen starken Durchfall. Man verwendete Myrrhe auch gegen Heiserkeit und Mundgeruch sowie gegen Darm-Würmer.
Arabische Myrrhe-Medizin
Die Ärzte der arabischen Medizin erwähnen erstmals Magen- und Darmerkrankungen bei den Anwendungen der Myrrhe. Demnach sei Myrrhe beispielsweise gut bei Koliken, wenn man mit ihr eine Einreibung macht.
Der vielleicht bedeutendste Arzt des Mittelalters war der aus Afsana bei Buchara (heute Usbekistan) stammende Philosoph und Arzt Ibn Sina. Er wurde in Europa Avicenna genannt und beschrieb die Myrrhe sehr ausführlich. Magenbeschwerden gehören bei ihm zu den wichtigsten Anwendungen der Myrrhe. Weiter betont er, dass Myrrhe eine öffnende und lösende Kraft auf Blähungen besitze. Sie lindere und schütze vor Fäulnisbildung und ziehe krankmachende Säfte heraus. Sie soll gut für die Haare sein, Narben und Mundgeruch beseitigen sowie bei Geschwüren und Wunden sehr nützlich sein. Hinsichtlich der Verdauungsorgane weist er darauf hin, dass reine Myrrhe den Magen erweiche und bei Aufblähungen des Magens hilfreich sei.
„Circa instans“
Gegen Mitte des 12. Jahrhunderts entstand an der Medizinschule von Salerno eines der wichtigsten arzneikundlichen Werke des mittelalterlichen Europa, das nach den Eingangsworten „Circa instans“ benannt wurde. Die Myrrhe wird im Kapitel 152 behandelt: Pillen aus Myrrhe werden gegen Schnupfen und zur Stärkung der Verdauung empfohlen. Eine Abkochung von Myrrhe in Wein stärkt die Verdauung und wirkt gegen Mundgeruch (der vom Magen her aufsteigt), sowie gegen Eiter in Magen und Darm. Weitere Einsatzgebiete sind Fäule des Zahnfleisches und die Wundbehandlung. Der inhalierte Rauch soll das Gehirn stärken. Von unten aufgenommen reinige Myrrhe die Gebärmutter, fördere die Empfängnisfähigkeit und lege den Stuhlzwang. Das „Circa instans“ legt insgesamt ein großes Gewicht auf die Behandlung der Verdauungsorgane - ähnlich wie Avicenna.
Mystische Myrrhe in der Klostermedizin
Im ersten Buch der „Physica“ widmet die wohl bekannteste Naturheilkundlerin Hildegard von Bingen der Myrrhe ein umfangreiches Kapitel: Es beginnt mit detaillierten Ausführungen zur Wirkung der Myrrhe gegen Zauberei. Dort heißt es: „(Die Myrrhe) hat die unverderbbare Kraft der Erde und duldet daher keine Windbeutelei (Betrug), sondern verjagt alles Windige, und der Teufel verabscheut sie, weil ihre Natur nicht verderbt werden kann und nie ihre Kraft verliert.“ Wirklich interessant aber sind ihre Angaben zur eigentlichen Heilkunde. Sie nennt „Gelbsucht“ und Lähmungen. Wer an Magenschmerzen leidet, die von schädlichen Säften herrühren, soll sich eine Salbe aus Myrrhe, Aloe und Fünffingerkraut mit Honig zubereiten, damit ein Hanftuch bestreichen, das man sich auf den Bauch bindet.
Der Übergang vom Mittelalter zur frühen Neuzeit wird im deutschsprachigen Raum durch den ersten durchgehend bebilderten Druck eines Kräuterbuchs geprägt, dem „Gart der Gesundheit“, der im Jahr 1485 in Mainz herauskam. Im Kapitel über die Myrrhe heißt es, dass Myrrhe mit Wein eingenommen die Verdauung fördert und den Magen erwärmt. Außerdem soll Myrrhe die Empfängnis der Frauen verbessern sowie bei Stuhlzwang wirken.
Heilwirkung bei den „Vätern der Botaniker“
In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts erschienen mehrere Kräuterbücher, die neben den medizinischen Aspekten nun auch größeres Gewicht auf die Beschreibung der Pflanzen legten, deshalb werden sie auch „Väter der Botanik“ genannt.
Adam Lonitzer, Stadtarzt zu Frankfurt in der Mitte des 16. Jahrhunderts, schuf auf der Basis des „Gart der Gesundheit“ sein Kräuterbuch, das 1557 erstmals in Frankfurt erschien. Er nennt Myrrhe als Mittel gegen Würmer, Zahnfleischentzündungen und –schwund, es wirke gegen Mundgeruch und Flechten. Auch die Pillen gegen Asthma, Husten und Schnupfen fehlen nicht, wie auch der Hinweis, dass Myrrhe mit Wein die Verdauung stärkt und den Magen erwärmt. Zusammen mit Käsemolke fördert es den Stuhlgang. Das meist gedruckte Kräuterbuch des 16. Jahrhunderts war das Werk des italienischen Arztes Mattioli (1501-1577). Er wurde Leibarzt Kaiser Maximilians II. und wirkte deshalb vor allem in Prag. Die deutsche Erstauflage erschien 1563. Hier heißt es, dass Myrrhe in der Größe einer Bohne genommen gegen Husten, schweres Atmen (Asthma), Seitenschmerzen (Lunge- oder Rippenfellentzündung), Durchfall und Ruhr helfe. Es nützt auch dem schwachen Magen, der von Blähungen belastet ist und Speisen nicht aufnehmen kann. Das wichtigste Arzneibuch des 17. Jahrhunderts war die „Chymische Apotheke“ des Johann Schröder, der wiederum Stadtarzt in Frankfurt am Main war. Myrrhe empfiehlt er bei Verstopfung der Gebärmutter, Austreibung der Leibesfrucht, Schleim in der Lunge und den Därmen, Heiserkeit, Husten, Halsgeschwüren, Seitenstechen, Koliken, Würmern, Durchfall, Ruhr, Fieber und insbesondere Malaria.
An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert gehörte Christoph Wilhelm Hufeland zu den maßgeblichen Ärzten in Deutschland. In zahlreichen Veröffentlichungen rühmt er die Myrrhe u.a. als Tonikum (Stärkungsmittel) für Magen, Herz und Nerven.
Ein monumentales Werk im 18. Jahrhundert war „Köhler’s Medizinal-Pflanzen“. Das dreibändige Werk erschien in Gera 1887. Bei den Anwendungen werden unter anderem der Einsatz als Stomachicum bei Verdauungsschwäche und „Magenkatarrh“ genannt. Die Anwendung der Myrrhe bei Magen- und Verdauungsproblemen war also im ausgehenden 19. Jahrhundert sehr präsent.
Das großartige „Lehrbuch der biologischen Heilmittel“ (Leipzig 1938) von Gerhard Madaus weist als zeitgenössisches Hauptgebiet unter den Anwendungen der Myrrhe Erkrankungen der Mundhöhle aus. Myrrhe begünstige weiter die Wundheilung und werde innerlich als Mittel bei „Verschleimungen der Verdauungs- und Respirationsorgane und bei allen Schleimhautkrankheiten gern gegeben.“
Mystische Myrrhe in der Moderne
Myrrhe wird bei heute vorwiegend bei entzündlichen Erkrankungen eingesetzt. Besonders gut erforscht wurden in der jüngeren Vergangenheit die Wirkungen zur Stärkung der Darmbarriere (Berliner Charité, 2013) und zur Linderung von Darmkrämpfen (Uni Leipzig, 2012). Daher wird Myrrhe (oft fertig kombiniert mit anderen Arzneipflanzen) auch in Studien zu chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (Studie Kliniken Essen-Mitte) und bei Reizdarm eingesetzt. Besonders bei Verdauungskrankheiten, die mit Durchfall einhergehen, hat sich die Myrrhe aufgrund ihrer vielfältigen Wirkweise bewährt. So werden seit mehr als fünfzig Jahren Arzneipflanzenkombinationen mit Myrrhe (aus der Apotheke) zur unterstützenden Behandlung von Magen-Darm-Störungen erfolgreich eingesetzt. Die unterschiedlichen, darin enthaltenen Heilpflanzen, wie beispielsweise auch Kamille und Kaffeekohle, greifen an verschiedenen Punkten im Verdauungstrakt an und verstärken sich gegenseitig in ihrer Wirkung.
Dieser medizinhistorische Myrrhe-Beitrag wurde erstellt auf Basis eines Texts von Dr. Johannes Gottfried Mayer (1953 - 2019), Forschergruppe Klostermedizin der Universität Würzburg.



